Das Missverständnis der Freiheit

Ich fand es etwas seltsam, als die Telefongesellschaften vor ein paar Jahren von der Freiheit zu reden begannen. Einmal sprach ich mit einem Kundenberater: «Ich liebe die Freiheit», rief er fröhlich und erklärte mir, dass er deswegen das teuerste Abo habe, das ihn in keiner Weise einschränke – er empfehle es mir ebenfalls. Ich konnte ihm logisch folgen, empfand es aber trotzdem als übertrieben, den Begriff der Freiheit in Zusammenhang mit einem Handyabo zu stellen. Das war allerdings vor Corona.

Mittlerweile steht auch die Mund-Nasen-Bedeckung, eigentlich ein banales Instrument für den Infektionsschutz, in direkter, ja zwingender Beziehung mit der Freiheit: Wer dieses Zellstoffrechteck im Gesicht trägt, ist ein willfähriger Sklave eines diktatorischen Systems; wer sich weigert, es zu tragen, ist ein strammer Soldat der Souveränität. Sagen jene, die sich weigern. Und nun darum das Referendum ergriffen haben gegen das im Frühling vom Stimmvolk angenommene Covid-Gesetz. Sie wollen die Zertifikatspflicht wieder abschaffen.

Die SVP behauptet auf ihren Plakaten, dafür einzustehen, dass die Gesellschaft nicht «gespalten» werde, was sehr lustig ist, wenn man bedenkt, dass diese Partei seit Jahrzehnten nichts anderes tut. Mit ihrem untrüglichen Instinkt für die Schweizer Unabhängigkeitsneurose hat sie die Gelegenheit erkannt, sich wieder mal als helvetische Hamas aufspielen zu können: «Nein zu Machtanmassung und Willkür, zu staatlicher Bevormundung, zur totalen Überwachung», schreibt sie auf ihrer Website. Als ginge es um irgendetwas davon. 

Als Kulturschaffender bin ich froh um das Covid-Zertifikat. Eineinhalb Jahre lang konnte ich kaum Lesungen abhalten, weil deren Programmierung zu unsicher war. Dank dem Zertifikat ist es endlich möglich, Veranstaltungen definitiv zu planen. Das neue Gesetz abzuschaffen, das die Grundlage dafür bietet, würde bedeuten, dass diese Anlässe wieder unvorhersehbar und darum seltener würden. 

Freiheit bedeutet nach dem aktuellen Verständnis gewisser Kreise also, dass jede und jeder das Recht hat, Lesungen, Theateraufführungen und Konzerte zu besuchen, die nicht stattfinden können, weil die Infektionslage es nicht erlaubt. 

Das wäre sozusagen wie ein Handyabo, bei dem keine Anrufe möglich sind. Aber hey: Freiheit!

 

Bild: Joan Minder